Gelsenkirchen ist überall
Das Desaster der Kommunalwahl in Gelsenkirchen und der Abschied eines Hoffnungsträgers

Bei der Kommunalwahl in Gelsenkirchen hat die SPD 15,1 Prozent ihrer Wähler verloren. Hinter dieser Zahl verbergen sich 14395 Menschen, die den Genossen und – innen nicht mehr ihre Stimme gegeben haben. Rechnet man die Zahl der sozialdemokratischen Wähler auf die Zahl der Wahlberechtigten hoch, dann bleiben nur niederschmetternde 14 Prozent der Bürger übrig, die hier ihr Kreuz gemacht haben. In der Stichwahl konnte sich Karin Welge als neue Oberbürgermeisterin gegen ihren Konkurrenten von der CDU – Malte Stuckmann – durchsetzen. Gelsenkirchen ist keine normale Stadt in Deutschland, denn hier konzentrieren sich die Probleme des Strukturwandels, von Armutszuwanderung, der Kinderarmut, Verarmung, verfestigter Arbeitslosigkeit und kommunaler Verschuldung auf drastische Weise. Politische Lösungen und innovative Konzepte waren im Wahlkampf nicht zu erkennen. Eine Stadt im Brennglas, dass durch die Pandemie die politischen Versäumnisse der letzten Jahre drastisch deutlich macht.
Die Mehrheiten sind neu verteilt und eine absolute Mehrheit gibt es nicht mehr. In den letzten Tagen haben die Koalitionsverhandlungen begonnen und eine kommunale “große Koalition” scheint denkbar. Die Christdemokraten haben mit ihrem Kandidaten die Fehler der bisherigen Politik zwar scharf kritisiert, aber Malte Stuckmann scheint aktuell keine Rolle mehr zu spielen. In den Erklärungen des neuen Fraktionsgeschäftsführers Sascha Kurt lässt sich eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der bisher gescholtenen SPD erkennen. Zumal der Wechsel der Kämmerin Karin Welge in das Amt der Bürgermeisterin eine attraktive Position in der Verwaltungsspitze für den vermeintlichen Partner eine Rolle spielen wird. Das deutet auf ein “weiter so” hin und verspricht keine wirkliche Wende in der Politik. Die Genossen mussten ihr Führungspersonal neu aufstellen und sind dabei in alte Verhaltensmuster verfallen. Fraktionschef ist der 66jährige Axel Barton und der aufstrebende Nachwuchs wurde nur mit den undankbaren dritten und unwichtigen Plätzen bedacht. Ein Aufbruch der Generationen sieht anders aus. Damit die Frauenquote zumindest formal eine kleine Rolle spielt, bekam die in den eigenen Reihen durchaus umstrittene Silke Ossowski den Posten der Fraktionsgeschäftsführerin. Das ist vielen Frauen in der Partei zu wenig, aber die Kritik äußert sich eher verhalten. Die beiden „Volksparteien“ feiern sich für ihre guten Ergebnisse und blenden dabei aus, dass in der ehemaligen Stadt der “Tausend Feuer”, die Menschen kaum Interesse am demokratischen Prozess haben. Die Wahlbeteiligung lag bei 41,5 Prozent und das heißt, dass 58,5 Prozent der Wahlberechtigten nicht gewählt haben. Die zweite Katastrophe liegt in dem Ergebnis der AfD mit 12,9 Prozent. In NRW blieb die Partei weit hinter ihren Erwartungen zurück. Ganz anders in Gelsenkirchen, denn hier das ist die Hochburg der Partei im Westen. Vielleicht hat die Politik in Gelsenkirchen damit die letzte Chance auf eine Wende verspielt, denn die Probleme scheinen übermächtig. Die Eitelkeit der Parteien und das Geschacher um Posten helfen nicht weiter. Die Menschen in der Stadt sehen das scheinbar so und haben das mit ihrer Wahlbeteiligung deutlich gemacht.
In Gelsenkirchen ist der “alte” Oberbürgermeister Frank Baranowski zur Kommunalwahl 2020 nicht mehr angetreten. Das hat die eigene Partei überrascht und auf dem falschem Fuß erwischt. Wahrscheinlich hat er das Desaster für seine Stadt geahnt und die persönliche Reißleiste gezogen. “Immerhin kann es nicht weiter bergab gehen, denn wir sind schon ganz unten“, analysierte Kämmerer Rainer Kampmann (CDU) 2010 die Lage. Damals lag er richtig, aber leider war seine Prognose zu optimistisch. Das Durchschnittseinkommen in der Stadt ist inzwischen das niedrigste bei den Großstädten in Deutschland und die Armut trifft mehr als 40 Prozent der hier lebenden Kinder. Durch Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau und Armutszuwanderung sind viele Stadtteile zu „Problemvierteln“ geworden. Gelsenkirchen ist hoch verschuldet und durch die Pandemie sinken die Einnahmen bei der Gewerbesteuer um bis zu 80 Prozent. Insolvenzen und Arbeitslosigkeit werden im Winter neue Rekordwerte erreichen. Frank Baranowski hat also den richtigen Zeitpunkt für seinen Ausstieg gewählt.
Seit 16 Jahren war er dabei und der Anfang war etwas holprig, die öffentlichen Auftritte unsicher und die Reden noch steif. Schnell hat er seine Rolle gefunden und sein Auftreten kann in der Folge als „smart“ bezeichnet werden. So ist es kein Zufall, dass er bei den diversen Krisen seiner Partei immer wieder als Hoffnungsträger genannt wurde. Das gilt für die Landes- und Bundesebene. Geblieben ist er in Gelsenkirchen. Das hat seinem Ansehen nicht geschadet, obwohl die Stadt in der Regel schlechte Nachrichten produziert und bei allen Rankings auf dem letzten Platz liegt.
In seiner Abschiedserklärung betonte der Oberbürgermeister sein Ziel, „dann aufzuhören, wenn die Mehrheit der Menschen „Schade“ sagt und nur eine Minderheit endlich“. So einfach ist es natürlich nicht. Im Rückblick bleibt es lobenswert, dass er sich immer eindeutig gegen rechte Parteien und Tendenzen stark gemacht hat. Zu Bündnissen mit allen gesellschaftlichen Gruppen – auch den linken Organisationen– ist es aber erst in letzter Zeit gekommen. Der Umgang mit Flüchtlingen ist eine kleine Erfolgsgeschichte, da die Stadtspitze versucht hat, die Angekommenen dezentral in Wohnungen unterzubringen und Ghettos zu vermeiden.
Das hat nicht verhindert, dass Gelsenkirchen bei den Wahlergebnissen mittlerweile die Hochburg der AfD im Westen ist. Die Vertreter der „autoritären Nationalradikalen“ wie der Soziologe Wilhelm Heitmeyer sie bezeichnet, tauchen in der Stadt nicht auf, organisieren keine Veranstaltungen, aber sie werden dennoch gewählt. Daran haben die Sozialdemokratie und der Oberbürgermeister ihren Anteil. „Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit“, wusste schon Ferdinand Lassalle, der Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie. „Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist“. Gelsenkirchen ist die ärmste Stadt Deutschlands und die Haushaltseinkommen sinken real. Die Arbeitslosigkeit ist trotz des wirtschaftlichen Wachstums weiter zweistellig, die Zahl der Schulabbrecher ist hoch und die Kinderarmut erreicht Rekordwerte. Von den im Grundgesetz formulierten gleichwertigen Lebensverhältnissen ist Gelsenkirchen weit entfernt. Jedoch die Verantwortung dafür liegt nicht allein bei der kommunalen Politik.
Die Sozialdemokratie muss sich vorwerfen lassen, die Probleme schönzureden, die Beteiligung der Bürger zu vernachlässigen und keine Lösungen anzubieten. Die aktuelle Währung bei den Wählern heißt Glaubwürdigkeit und da hat die Partei wenig zu bieten.
Wer die Probleme seiner Stadt beständig leugnet und beschönigt, der hat an der Wahlurne keinen Erfolg. Das gilt auch für die Armutszuwanderung aus Osteuropa nach Gelsenkirchen. Die ankommenden Menschen wohnen in Schrottimmobilien, werden von Geschäftemachern ausgenutzt und es kommt zu regelmäßigen Konflikten mit den Nachbarn im Stadtteil, die hier schon länger leben. Oberbürgermeister und Partei haben das zu lange geleugnet. Inzwischen ist kaum ein Stadtteil davon ausgenommen. Die Ökonomen des Weltwirtschaftsinstituts in Hamburg rechnen damit, dass die Immobilien in Gelsenkirchen bis 2030 jährlich 1,9 Prozent an Wert verlieren. Es gibt zu wenig Arbeitsplätze für Akademiker, Jugendliche wandern ab und die schrumpfende Stadt hat eine alte Bevölkerung. So macht es die SPD der AfD zu leicht.
In Gelsenkirchen ist man immer Ideen hinterhergelaufen, die woanders schon probiert wurden. Das gilt für die Solarwirtschaft, die Dienstleistungsgesellschaft und aktuell für die Ansiedlung von Logistikunternehmen. Es werden keine neuen Ideen ausprobiert, die der Stadt ein Alleinstellungsmerkmal verschaffen. Dazu passt, dass in der Verwaltung Führungsposition regelmäßig mit verdienten Parteifreunden und langjährigen Mitarbeitern besetzt werden. Kreative Köpfe von außen und neue Ideen haben so keine Chance.
Frank Baranowski hat in den letzten Jahren gelernt, kluge Entscheidungen zu treffen und das gilt auch für seinen vorzeitigen Ausstieg. Der Zeitpunkt f ist gut gewählt, denn die Kommunalwahl 2020 hat der SPD in Gelsenkirchen eine historische Niederlage beschert. Dabei hätte Frank Baranowski gute Chancen für eine Wiederwahl gehabt. 2014 hat er 67,4 % der abgegebenen Stimmen erhalten und das war das beste Ergebnis für einen SPD-Kandidaten in Nordrhein-Westfalen. Sein Rücktritt ist für die Genossen und -innen ein Desaster. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass selbst die größten Kritiker dem Oberbürgermeister schon bald nachtrauern werden. Das schließt den Autor dieser Zeilen ausdrücklich mit ein.